Elmar Zorn: Erinnerungen an den blühenden Holler
Das Bild, dessen Titel „Erinnerung an den blühenden Holler“ Bestandteil der Komposition ist, stellt sich dar in einer Strahlkraft, welche nicht etwa von einer eleganten, dekorativen Oberflächlichkeit herrührt, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sondern von einer Tiefe, die sich in präzise kalkulierter Konstruktion der Bildelemente herstellt.
Die Elemente sind zum ersten die weißen und goldgelben Farbklichees, aufgetragen mit einer handgefertigten Walze, zum zweiten die schwarzen Konturen, die durch Aufkleben eines mit dem Zackenmesser ausgeschnittenen Streifens und Freilegen des schwarzen Leinenuntergrundes beim Abreißen der Streifen entsteht, und zum dritten die durcheinandergewirbelten Schriftzüge der Worte „Holla“, „Topfen“, „Powidl“, „Egal“, „Wurscht“ und „Kurt“, die mit Ausnahme des handgemalten Titels ebenfalls mit der Walze aufgerollt sind.
Drei diverse Arten von Klischierung also – das ist das Gegenteil von spontaner, naturalistischer oder impressionistischer Abbildung eines Naturgegenstandes, die ja so offensichtlich durch die Titulatur erinnert, evoziert werden soll. Die Methode vergleichbar der Ursituation des Lesens, ich meine Lesen im wörtlichsten Sinn, also das Auflesen der kleinen Buchenzweige, der Buchstaben ,die erst vom germanischen Priester und Seher auf der Erde ausgeschüttet wurden und die dann im Auflesen, im Erkennen des Kontextes Bedeutung zugewiesen bekamen.
Die landläufige Bedeutung der auf das schwarze Leinen verstreuten Worte „Holla“, „Topfen“, „Wurscht“, „Egal“ widerspricht eigentlich dem emphatischen Titelprogramm. Wer in dieses schwarze Loch hinein die „Erinnerung an den blühenden Holler“ stanzen will, dem kann doch dieses Anliegen nicht „Wurscht“, eben nicht „Holla“ sein. Eher lässt sich eine apothropäische Vorgehensweise vermuten, so wie die weiblichen Bugfiguren auf den Schiffen geradezu phallisch in die Wogen des feindlich-weiblichen Meeres eindringen sollen, um Gleiches symbolhaft mit Gleichem zu bannen.
Wenn wir uns vor Augen halten, dass dieses Bild nur aus Struktur und Muster besteht, die sich gegenseitig steigern – Schriftbuchstaben, Zeichenkontur und Blumenform-Matrix -, wird ein poetologisches Programm erkennbar: Die Bildklischees binden die Wahrnehmungsklischees, so dass Raumlücken offen werden, sich Tiefe herstellt, Erinnerung freigelegt wird: nicht an den Holler als solchen, denn er ist ja nur Klischee, sondern an die von ihm mitgetragene, bislang in der Erinnerung verstellte und verschüttete Atmosphäre und Stimmung.
Die Aufhebung und Entwertung der Wahrnehmungsklischees durch die Bedeutungslosigkeit der Wörter „Holla“, „Egal“, „Topfen“, „Wurscht“ versetzt uns in einen Raum vor der Festlegung unserer Wahrnehmungsbewertung. Es ist ein wieder entrümpelter, entklischierter, gesäuberter Raum. Die Schwärze dieses Raumes macht es uns möglich uns darin imaginativ, virtuell zu bewegen, in die Tiefe hinein und wieder heraus. Der Raum der geklärten Erinnerung, den Kunst so ermöglicht, ist zugleich natürlich auch der Raum der Kunst. Die der Wahrnehmung wieder zugänglich gemachte Erinnerung an ein Stück Natur wird in der Kunst zu einer zweiten Natur verwandelt. Der Zugang – und hier unterscheidet sich das Bild des Künstlers fundamental von unseren virtuellen, datengeschützten Reisen in Cyberspace und Internet – wird konstruiert über die emotionale und assoziative Kraft der Farb-Evokation, der Nonsense-Evokation, der Harmonie-Evokation – ein Zugang, der wie gesagt Programm ist und Schlüssel für das Betreten des poetischen Raumes.
Die Verteilung der Bildelemente auf der schwarzen Fläche ist so arrangiert, dass der Betrachter sich auch vorstellen kann, diese Elemente durch das Elektronenmikroskop zu erkennen, oder er sich als frei im unendlichen makroskopischen Raum vagierend, navigierend vorkommen könnte. Die Intuition in den Erinnerungs- und in den Kunstraum wird nicht nur hergestellt, sondern führt also ihre eigene Methode, ihr eigenes Programm vor.
Was dieses Wahrnehmungsspiel so bemerkenswert macht – und es handelt sich nicht um die Glattheit und Oberflächlichkeit a la Franco Maria Ricci – ist, dass der Zugang nicht hermetisch und für ein paar wenige, geschulte Kunstkenner begehbar ist. Die Reise in das unendliche Bild, in die unendliche Erinnerung ist jedem von uns möglich, der nur die Losungswörter lesen kann, ohne dass er die programmatischen Zusammenhänge analysiert haben müsste. „Holla“ und „Topfen“, diese Realpartikel der Alltagskultur, tragen uns in diese andere Welt wie in die Welt des Little Nemo, eine der ersten und vielleicht schönsten Bildgeschichten am Beginn der Comics. Solange Künstler wie Kurt Welther solche Phantasiebilder herstellen, brauchen wir keine Angst zu haben, dass uns in der virtuellen Realität von heute die Bilder mangels Tiefe verlassen, die Buchstaben die Magie und den befreienden Nonsense verleiden, die Erinnerung an den schönen Alltag verschwindet. Denn wir brauchen uns ja nur den Zauberspruch vorzusagen: „Alles Holla“ – und zack – da ist sie wieder: Die Erinnerung, die Kunst, die Natur – also der ganze Mensch.
Elmar Zorn
München